The first cut is the deepest

Letzte Woche ist was nicht so Schönes passiert. Es hat mit *drum roll* Datenschutz und DSGVO zu tun. Und mit meinem Kind. Oder vielmehr: allen Kindern. Und Jugendlichen. In diesem Internet.

What happened

Es war Dienstag. Irgendwann am Abend. Ich höre ein Klappern der Kinderzimmertür, verwundert war ich natürlich, so spät noch, morgen Schule. Als ich das Zimmer betrete, liegt dort ein schluchzendes Kind, zusammengerollt auf seinem Bett. Was passiert sei, frage ich besorgt. Es habe nochmal auf sein Telefon geschaut. Und da habe gestanden, dass sein Instagram-Profil gelöscht sei. Und dann habe es versucht, das irgendwie zu ändern. Und jetzt wisse es nicht, was es tun soll. Und alles sei furchtbar. Und …

Mir blieb dann nichts weiter, als zu versprechen, dass wir helfen. Uns gleich am nächsten Morgen darum kümmern. Dass bestimmt alles wieder wird. Heute, eine Woche später, ist der Account immer noch gelöscht.

The first cut is the deepest

Das war sie also, die erste Begegnung mit einer beinharten Grenze digitaler Kommunikation. Der Ausschluss aus einem lieb gewonnenen Netzwerk. Aus ad hoc kaum bzw. nur schwer nachvollziehbaren Gründen.* Endgültig, gnadenlos, zum Verzweifeln.

Diesen Schmerz konnte ich gut nachfühlen. Wie mag es den anderen Kindern und Jugendlichen wohl ergehen, die in den vergangenen Wochen die gleiche Hiobs-Botschaft ereilte, dachte ich. Und den Eltern, die die damit verbundene Hilflosigkeit auffangen müssen (und die dem wahrscheinlich auch erstmal selbst ziemlich hilflos gegenüberstehen).

Denn das ist nicht nur ein lapidares Ding, vernachlässigbar. Es ist schon ein großes Drama – das machen zum Beispiel die Kommentare in App-Stores deutlich, die in diesem Artikel der Märkischen Allgemeine von Ende April 2018 zitiert werden. Allein: ich würde nicht sagen, dass die ausgeschlossenen Nutzer:innen einfach nur „verärgert“ sind. Sie klingen überrumpelt, geschockt, verzweifelt und wütend.

„Das ist ein bisschen so wie damals, als sich Take That aufgelöst haben“, sagt eine Freundin, als ich ihr von unserem Erlebnis erzähle. Weltweit hatte die Bekanntgabe eine Schockwelle unter Fans ausgelöst, verbunden mit (für viele Außenstehende wohl kaum/nicht nachvollziehbaren, gar belächelten) Trauerbekundungen bis hin zu Suizid-Versuchen. Ja, vielleicht ist das ein bisschen so, sage ich.

Eigentlich glaube ich, es ist mehr als das. Da wird einem nicht nur ein Fixpunkt entzogen, um den sich die eigene kleine Welt gedreht, und der fraglos einen wichtigen Teil des adoleszenten Ichs ausgemacht hat. Denn: Mit dem hier wird Aufwachsenden nicht nur eine eigene (mit anderen Fans geteilte, identitätsstiftende, vor allem auch emotional so bedeutsame) Welt entzogen. Sondern auch die Möglichkeit, in die große, andere Welt da draußen zu blicken, gar in ihr selbst zu wirken. Durch eigene Postings, Kommentare, der Kommunikation mit anderen (direkt, öffentlich oder privat). Digital teilzuhaben, wenn man so möchte. Ein Anspruch – ein Recht vielleicht sogar -, das auch Kindern zusteht, zustehen sollte.[1]

[+++ Update (25. Mai 2018, 18:45 Uhr): Ein paar Infos dazu, warum einige populäre Dienste das Mindestalter angehoben haben und was es mit dem Einverständnis der Eltern zur Nutzung auf sich hat, findet ihr zum Beispiel hier oder hier. Forscher:innen haben bereits länger auf potenzielle Konflikte hingewiesen, wie etwa John Carr in einem Beitrag für das LSE Media Policy Project Blog vom Mai 2017 +++]

We’re getting cut, too

Es ist, finde ich, ein großer Verlust, der sich da anbahnen könnte. Einmal der Verlust von Stimmen unterhalb einer gewissen Altersgrenze. Ja, ich sehe die Risiken, auch die ethischen Dilemmata, die mit der Teilhabe von Kindern im Netz einhergehen.[2] Aber echt mal, Netzkommunikation Ü16 wäre nicht nur weniger vielfältig. Der Ausschluss von Kindern aus gewissen Kanälen könnte uns (Eltern) auch vor die unbequeme Aufgabe stellen, neue Lösungen für etablierte Organisationsabläufe zu finden („Mama, wann kommst du heute nach Hause? Bringst du Pizza mit?“ – gesendet via WhatsApp). Gilt natürlich auch für Klassenchats, Schulmails usw.

Aber ein anderer Verlust könnte vielleicht noch schwerer wiegen: der Verlust von Vertrauen. In Plattformbetreiber/Anbieter, in Eltern (die nichts machen können oder wollen, nicht ernst nehmen, abwiegeln usw.), vielleicht sogar die Politik (denn die, so hört man ja, hat uns das alles eingebrockt). Sie alle haben den Ausschluss nicht verhindert, nicht im Interesse der jungen Nutzer:innen gehandelt (die irgendwann auch mal wählen dürfen) – und man könnte es den betroffenen Kids vielleicht nicht mal übel nehmen.

Kaum jemand, so scheint es jedenfalls, hat sich mal ernsthaft darum bemüht, die Perspektiven und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen (oder hey, von mir aus auch der Eltern) im Regulierungsprozess anzuhören. Da hätte man einiges Interessantes erfahren können, wie dieser anonyme Beitrag eines/einer Jugendlichen zum Thema GDPR auf dem Blog des LSE Media Policy Project aus dem Jahr 2016 zeigt:

I offer the opinion that a more nuanced approach is needed to address the protection of young people online. […] instead of taking the internet away from young people we should make the internet a safer place for everyone by engaging with social media platforms and other internet services.

I tend to disagree with attributing a level of internet access with a certain age, particularly when that age is some arbitrary number that has minimal evidence behind it.

Das stimmt natürlich nicht ganz, denn die Medienforschung zum Beispiel widmet sich diesem Thema schon lange. Sie zeichnet ein differenziertes, spannungsreiches Bild zwischen dem Bewusstsein um Risiken und Potenziale vernetzter Kommunikation, Ängsten und Bedarfen im Hinblick auf Datenschutzfragen – und zum Teil völlig konträr dazu stehenden Nutzungspraktiken. Zugleich zeigen viele Studien der vergangenen Jahre zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen, wie wichtig Dienste wie WhatsApp, Instagram & Co. in ihrem Alltag sind. Sie daraus auszuschließen, im Sinne eines „taking away the internet from young people“, scheint vor diesem Hintergrund geradezu brutal.

Aber es ist ja längst nicht so als wären nur die Nutzer:innen betroffen: zahlreiche Anwendungen leben auch von ihnen. Sie verkaufen Werbetreibenden das Versprechen, diese jüngeren (und jüngsten) Zielgruppen zu erreichen. Sie sind der Ort, wo zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Rundfunk unbedingt stattfinden will, weil er befürchtet, sonst den Anschluss an sein zukünftiges Publikum zu verlieren. Wohin werden sich diese Akteure im Ü16-Netz zukünftig richten, zurück zu den klassischen Kanälen? *lol* nope.

Dieser ‚hard cut‘, wie er jetzt durchgesetzt wird bzw. werden soll, eröffnet den Anbietern in gewisser Weise einen bequemen Weg, all jene Nutzungsgruppen loszuwerden, wegen denen man ohnehin immer Ärger mit Behörden usw. hatte (Stichwort: Jugendmedienschutz). Ob und wie sich das letztlich auswirken wird, auf Demographie und Werbeattraktivität einzelner Dienste, wird sich zeigen.

Wenn ich an den Anfang zurückdenke, an mein zusammengerolltes Häufchen Elend, da bleiben ehrlich gesagt ebenso viele Fragezeichen. Wer erklärt es denn jetzt eigentlich den Kids, den überforderten Eltern, was da warum los ist? Wer fängt Fragen und Beschwerden auf, leistet ggf. sogar Krisenintervention und Seelsorge, wenn die Verzweiflung angesichts gelöschter Profile zu groß wird? So weit wird es hoffentlich nicht kommen. Unterschätzen sollte man es trotzdem nicht.

Take that!

Neben all dem weniger Tollen, bleibt mir vor allem eine Hoffnung. Nämlich, dass sich Ärger und Hilflosigkeit angesichts der Exklusion aus bestimmten Anwendungen in etwas (kreativ) Produktives wandeln. Durch Workarounds, mehr oder weniger heimlich geteilte Tricks und Kniffe, kleine Formen des Widerstands (Stichwort: data obfuscation). Und ich vertraue auf die Cleverness von Kindern und Jugendlichen. Darauf, dass sie etwas über den heutigen Zustand des Internets und vernetzter Kommunikation gelernt haben. Und dass sie vielleicht eigene Tools und Kanäle entwickeln, die ihnen keiner so einfach wegnehmen kann.

Was mein Häufchen Elend anbelangt: es hat geweint, gelernt, Schlüsse gezogen und gehandelt. Und jetzt ist wieder alles gut. Bis zum nächsten cut.


P. S. Etwaige Probleme und Konflikte der DSGVO (bzw. GDPR im Englischen) im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen wurden schon seit Jahren angemahnt – wer mehr dazu lesen möchte, kann das zum Beispiel auf dem Blog des LSE Media Policy Project.

[1] Übrigens: Was digitale Teilhabe von Kindern mit Kinderrechten zu tun hat, und warum wir das Thema unbedingt auch unter netzpolitischen Aspekten mit Kindern diskutieren sollten, darum ging es in der Session „Kinderrechte im/ins Netz“ auf der re:publica 2018. Das Ganze habe ich gemeinsam mit Ingrid Stapf und Martin Riemer veranstaltet, die Dokumentation der Session findet ihr auf dem Blog digitalekinderrechte.eu.

[2] Ein paar (meiner) Perspektiven zu ethischen Aspekten des Eltern-Seins im Netz habe ich im Mai 2015 auf der ersten BlogFamilia in Berlin zum Besten gegeben. Einen (Audio)Mitschnitt meines Talks findet ihr auf YouTube. Zu allen rechtlichen Fragen, die mit dem Thema zu tun haben, möchte ich an dieser Stelle auf ausgewiesene Expertinnen und Experten verweisen (zu denen ich nicht gehöre).


* Noch ein Update (1. Juni 2018, 13.50 Uhr): Zu meiner großen Überraschung wurde ich heute von einer Agentur kontaktiert, die im Auftrag von Instagram handelt und darauf hinweist, dass die Löschung des Accounts nichts mit der DSGVO zu tun habe. Das Mindestalter von 13 Jahren gelte bereits seit Inkraft-Treten der neuen Insta-Nutzungsbedingungen am 1. November 2017. So so. Ich lasse das hier mal so stehen.